Postmaterialismus: Wir kaufen nichts!
Irgendwas scheint mit mir nicht zu stimmen.
Es geht nun schon eine ganze Weile so: mir macht Kaufen einfach keinen Spass mehr.
Es ist nicht so, als ob ich mir nicht ab und zu etwas gönnen würde.
Aber diese Vorfreude auf das Kaufen um des Kaufens wegen…einfach weg.
Nehmen wir das Beispiel Klamotten. Egal ob Kaufhaus, Modekette oder Boutique – ich bin kaum durch die Eingangstür und hab schon keine Lust mehr.
Dabei entspreche ich überhaupt nicht dem Männer-Klischee des einkaufsfaulen Modemuffels. Ganz im Gegenteil. Ich mag schöne Sachen und habe durchaus einen Sinn für Ästhetik.
Was ist bloß los mit mir? Ich hab doch früher so gerne geshoppt.
Die Diagnose
Ich glaube, ich bin krank. Hab mir wohl was eingefangen.
Ja, ich war leichtsinnig. Ich habe nicht gut auf mich aufgepasst und vermutlich viel zu viele ungesunde Bücher und Blogs gelesen.
Im Nachhinein ist es schwer zu sagen, wo ich mir die Seuche geholt habe, aber ich habe schwer einen der folgenen Gedankenverdreher in Verdacht:
Leo Babauta von zenhabits.net
Joshua Fields Millburn & Ryan Nicodemus von theminimalists.com
Arthur Schopenhauer („Aphorismen zur Lebensweisheit“)
Bertrand Russell („Lob des Müßiggangs“)
Henry D. Thoreau („Walden“)
Michel de Montaigne („Von der Kunst, das Leben zu lieben“)
Seneca („Das Leben ist kurz!“)
Marc Aurel („Wege zu sich selbst“)
Das Virus muss hochansteckend sein, denn mit Ausnahme der ersten vier sind alle anderen genannten Schreiberlinge längst tot, und das seit teilweise mehr als 2.300 Jahren!
Angestiftet durch die unvorsichtige Lektüre ihrer Texte mache ich mir nun schon einige Zeit Gedanken über Konsumverzicht, Freiheit, den Sinn des Lebens, Leidenschaft, Erfüllung und all dieses…nun ja, philosophische Zeugs.
So kenne ich mich gar nicht. Was sage ich, so kannte ich mich nicht, denn mittlerweile lebe ich ja nun schon ein paar Jahre mit dieser „Krankheit“.
Welche Krankheit?
Meine Recherche bei Dr. Google hat ergeben, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit am Postmaterialismus Syndrom leide.
Dabei handelt es sich um eine (noch) relativ seltene Zivilisationskrankheit, die allerdings kaum heilbar ist. Einmal von ihr befallen, scheint es für die betroffenen Postmaterialisten keine Rückkehr zum Bewusstseinszustand des eifrigen Konsumenten mehr zu geben.
Vermutlich machst du dir jetzt Sorgen, ob auch du von dieser heimtückischen Seuche befallen sein könntest. Leider sind die Symptome anfangs eher uneindeutig, erst in der vollen Blüte der Erkrankung zeigt sich das ganze Spektrum:
Du bist immun gegen Werbung
Sie wirkt einfach nicht mehr. Man könnte dir noch so viele Werbespots mit den tollsten Marken und Produken vorführen, aber du verspürst partout kein Bedürfnis, irgend etwas zu kaufen.
Du denkst nicht über Klamottenlabels nach
Du ziehst dich gerne gut an, kümmerst dich aber einen feuchten Kehricht darum, von welcher Marke die Sachen sind. Interessiert keinen Toten, welches Label auf der Jeans klebt, Hauptsache sie sitzt gut.
Du rechnest Überstunden nicht mehr in Schuhe oder Handtaschen um
Ok, das ist zugegeben ein sehr frauenspezifisches Phänomen. Ich weiß nicht, ob und in was Männer ihre Überstunden umrechnen…
Du machst dir nicht dauernd Gedanken über deine Wirkung auf andere
Underdressed? Overdressed? Der Schal passt nicht perfekt zu den Schuhen? Die Welt hat größere Probleme und was die anderen denken…ist ihr Problem.
Dir ist egal, was für ein Auto du fährst
Auf der Beifahrerseite kannst du vor lauter Müll die Fußmatte nicht sehen und der letzte Besuch in der Waschstraße war…ja, wann eigentlich? Ist dir aber latte, solange du von A nach B kommst.
Du freust dich plötzlich über die kleinen Dinge des Lebens
Du genießt es einfach draußen in der Sonne zu sitzen, ohne auf die Uhr zu schauen und freust dich, wenn die Omi vom Nachbarbalkon nett rüber winkt.
Postmaterialismus: Bist du betroffen?
Und, hast du eines der Symptome bereits bei dir feststellen können? Falls ja, brauchst du nicht zu verzweifeln.
Das Kuriose ist nämlich, mir geht es ganz gut mit dieser ominösen Seuche. Mir geht´s irrwitzigerweise sogar besser als vorher. Besser als zum Zeitpunkt, an dem ich noch ein kerngesundes, vollwertiges Mitglied der Konsumgesellschaft war.
Dabei ist der Krankheitsgewinn eher gering, denn die größte Herausforderung des am Postmaterialismus-Syndrom Erkrankten besteht darin, Verständnis von all den Nichterkrankten zu bekommen.
Denn wer wenig kauft, macht sich schnell verdächtig.
Er tut es vermutlich nur deswegen nicht, weil er kein Geld hat. Weil er arm ist. Wer kommt schon auf die abwegige Idee, dass jemand nicht kauft, weil er einfach nicht kaufen will?
Der Krankheitsverlauf
Am Anfang ist es schlimm. Man stellt alles in Frage. Wird furchtbar kritisch. Man schaut sich um und denkt:
Was brauche ich wirklich?
Warum habe ich all dieses Gerümpel gekauft?
Was kann ich Sinnvolleres mit meinem Geld anfangen?
Und plötzlich sieht man klar. Geld bekommt eine völlig neue Bedeutung: es schafft Freiheit.
In der Gegenwart schafft es Freiheit durch Verzicht.
Denn Geld, das nicht ausgegeben wird, braucht vorher erst gar nicht verdient zu werden. Das bringt freie Zeit. Und Geld, das einmal da ist, kann für später angelegt werden.
In der Zukunft schafft es Freiheit durch Vermögen.
Denn finanzielle Unabhängigkeit bedeutet, kein Geld mehr verdienen zu müssen.
Ja, aber das klingt doch alles sehr gesund, das kann doch nicht krank sein? Aus Sicht der Wirtschaft schon. Denn um zu wachsen, braucht sie aktive Konsumenten. Entweder hier bei uns oder eben woanders auf der Welt.
Das Vorsorge-Paradox
Je mehr wir verzichten, sparen und anlegen, desto weniger können wir kaufen und unsere Wirtschaft ankurbeln. Da trifft es sich ganz gut, dass wir „Exportweltmeister“ sind und wenigstens „das Ausland“ unsere Produkte kauft.
Wehe, wenn sich das mal ändert.
So mahnt auch der Internationale Währungsfonds (IWF) schon seit Jahren, Deutschland müsse seine Binnenkonjunktur stärken. Auf deutsch: wir sollen mehr shoppen, nicht etwa weniger!
Was wäre also, wenn noch viel mehr Menschen postmaterialistisch denken würden? Wenn alle weniger ausgeben und mehr sparen würden?
Es würde nicht funktionieren.
Die Wirtschaft würde bestenfalls stagnieren, vermutlich deutlich schrumpfen. Die Aktienkurse würden nicht mehr steigen und damit wäre die Möglichkeit zunichte gemacht, auf bequeme Art und Weise Vermögen zu bilden und damit fürs Alter vorzusorgen.
Es mag zynisch klingen, aber wahr ist:
Unsere Hoffnungen ruhen auf Milliarden von Indern, Chinesen, Pakistanern und all den anderen, die noch auf das Erlebnis warten, vor endlosen Regalreihen stehend eine Entscheidung über das richtige Haarshampoo treffen zu dürfen.
Ihnen stehen die Segnungen des Kapitalismus noch bevor. Sie wollen verständlicherweise gerne kaufen und aus unserer Sicht müssen sie das auch.
Denn nur dann können wir – dem Materialismus überdrüssig – guten Gewissens sagen:
Wir kaufen nichts!
Bildquelle: „Shop Window dolls…“ von Klearchos Kapoutsis (bearbeitet), lizensiert unter CC BY 2.0
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